Stehen die Schulen in der Schweiz nur an zweiter Stelle?
Ein Kommentar von Jossi Schütt
Fotografie: Kurt Hofmann, schuleohneschule.kshp.ch
Nun hat der Bundesrat also den lang ersehnten Plan für den Ausstieg aus dem Corona-Stillstand vorgelegt. Wie zu erwarten, gab es dafür viel Lob, aber auch heftige Kritik. Coiffeure dürfen schon bald wieder öffnen. Schülerinnen und Schüler in der Schweiz müssen sich allerdings noch ein wenig gedulden. Am 11. Mai, heisst es für Primarschülerinnen und Sekundarschüler wieder: «Ab in die Schule!». Gymnasien wie die HoPro öffnen erst am 8. Juni, in etwas mehr als sieben Wochen, wieder. Wir sind also noch nicht einmal in der Halbzeit der Corona-Ferien. Was heisst das für Schülerinnen und Schüler? Und weshalb erfolgen die Schulöffnungen hier später als in anderen Ländern?
Für mich persönlich, der ich im Maturjahrgang bin, ist die gestrige Pressekonferenz des Bundesrats mit zwiespältigen Gefühlen verbunden. Um Punkt 15:15 sass ich auf einem umgekippten Baumstamm an der Limmat und verfolgte das Medienspektakel im Livestream. Es freut mich sehr, dass bald etwas mehr Normalität zurückkehren soll, dass ich bald wieder zum Coiffeur darf, dass jetzt ein Plan da ist für die nächsten Wochen. Allerdings weiss ich seit gestern auch definitiv: Zur Schule gehen werde ich nicht mehr – mein letzter Schultag wäre am 29. Mai.
Was für mich und uns Maturanden allgemein sicher positiv ist: Jetzt haben wir etwas mehr Gewissheit. Zuvor schwebten wir – die einen vielleicht voller Hoffnung auf, die anderen vielleicht voller Furcht vor einer Wiederaufnahme des Unterrichts – in einem Zustand der Unbestimmtheit. Man musste spekulieren: «Glaubst du...?» – «Nein, ich kann es mir nicht vorstellen.» – «Ich eben schon...». Dieses Spekulieren ist nun zum Glück vorbei. Allerdings nur in Bezug auf die Frage, ob wir wieder zur Schule gehen oder nicht.
Denn das Problem der Maturprüfungen ist noch immer ungelöst. Deutschland, Österreich, Frankreich – alle scheinen schon eine Lösung für ihre jeweiligen Äquivalente zur schweizerischen Matura gefunden zu haben. Währenddessen in der Schweiz: Immer noch Limbo – die Prüfungen sind weder tot noch lebendig; weder abgesagt noch bestätigt. Fest steht derzeit einzig, dass wir ein Maturzeugnis bekommen werden – zeitig genug, um im Herbst mit dem Studium beginnen zu können.
Doch einige Fragen drängen sich trotzdem auf: Wie ist es möglich, den Fahrplan für die Massnahmen bis im Juni festzulegen, jedoch für die ebenfalls im Juni stattfindenden Maturprüfungen noch keine Lösung gefunden zu haben? Natürlich, dieser Entscheid liegt in der Hand der Kantone – Föderalismus und Kantönligeist tun hier ihren Zweck. Allerdings hat das bildungspolitisch ebenfalls sehr föderalistische Deutschland seinen 16 Bundesländern eine Entscheidung abringen können. Verständlich, dass die Schweiz da mit 26 Kantonen etwas länger braucht. Trotzdem wäre es wichtig, hier möglichst schnell Klarheit zu schaffen. Nur schon aus Fairness den Schülerinnen und Schülern gegenüber, die doch wissen sollen, auf was für eine Prüfungsform, ob schriftlich oder mündlich, sie sich jetzt vorbereiten müssen.
Allenfalls erstaunlich mögen Blicke in die Nachbarländer ausfallen. In Deutschland hat das Bundesland Nordrhein-Westfalen derartig auf eine baldige Wiederaufnahme des Unterrichts gedrängt, dass es sogar zum Streit mit Bayern, das hier eher abwartender agiert, gekommen ist. In Österreich würdigt Bundeskanzler Sebastian Kurz den MaturandInnen einen eigenen Instagram-Post mit dem Titel: Fahrplan für die Matura – welcher den Schülerinnen und Schülern klar angibt, wie ihre kommenden Monate aussehen werden. In Frankreich betont Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner von 37 Millionen Menschen gesehenen Fernsehansprache vom 13. April die Wichtigkeit, dass die Kinder schnell wieder in die Schule können. Ich persönlich werde den vorsichtig-beunruhigenden Eindruck nicht los, dass in den vom springenden punkt analysierten Ländern die Bildung einen etwas höheren Stellenwert geniesst als in der Schweiz. Wird hierzulande prioritär über Gartencenter und Baumärkte gesprochen? Steht die Bildung hier nur an zweiter oder an dritter Stelle?
Ob unsere Nachbarländer mit ihren frühen Schulöffnungen voreilig entschieden haben, oder ob die Schweiz zu zaghaft vorgegangen ist, wird man erst nach der Krise mit Sicherheit sagen können. Nicht zu vergessen bei allen Vergleichen mit Nachbarländern ist ja auch, dass die Schweiz eine höhere Zahl an bestätigten Fällen pro Kopf aufweist. Doch ebenfalls nicht vergessen darf man: Um eine möglichst faire Bildung zu garantieren; um allen Schülerinnen und Schülern zu helfen, die daheim jetzt nicht die Möglichkeit haben, selbstständig zu lernen, hilft am ehesten eine baldige Rückkehr zum Präsenzunterricht.