Corona-Aktivität #1: Bücher mit pessimistischem Titel lesen

Corona-Aktivität #1: Bücher mit pessimistischem Titel lesen

von Jossi Schütt

Hört man täglich die Nachrichten, dann weiss man: Pessimismus ist angesagt. Zur gesundheitlichen Krise gesellt sich nun auch noch eine wirtschaftliche – die Zukunftsaussichten waren also schon rosiger als heute. Wieso also nicht weiter in der Spirale des Pessimismus versinken, ihn geradezu geniessen, indem man zum Beispiel Bücher mit besonders schwarzmalerischen Titeln liest? Hierfür eignen sich die Kriminalromane von Raymond Chandler.

«Der grosse Schlaf» heisst nämlich einer, «Der lange Abschied» ein anderer – dazu kommen noch «Lebwohl, mein Liebling» oder, wenn wirklich nichts anderes mehr geht, «Das hohe Fenster».

Natürlich sind diese Romane alle auch abgesehen von ihren zur Aktualität passenden Titeln äusserst lesenswert. Hier darum die Buchempfehlung: Im Los Angeles der 1940er Jahre tummeln sich allerlei Gauner, Flittchen und korrupte Polizisten. Eigentlich leben sogar fast nur solche krummen Gestalten in der Stadt, was es für Philip Marlowe, Privatdetektiv mit einem ausgesprochenen Sinn für Ritterlichkeit und Moral, unerträglich macht, sich dort zu bewegen. Trotzdem muss er ja irgendwie Geld verdienen, was für einen Privatdetektiv nichts anderes bedeutet, als Fälle zu lösen. Auf diesen Missionen begleiten wir ihn. 

Was die Bücher so besonders macht, ist die Atmosphäre, die sie erzeugen. Diese Atmosphäre des durchtriebenen Los Angeles erzeugt einen Sog, der so stark ist, dass man sich ihm kaum entziehen kann. Genau das Richtige also für die nächsten Wochen! Die vier oben genannten Romane, zu welchen es am Artikelende eine Zusammenfassung gibt, können unabhängig voneinander gelesen werden. Es gibt keine übergeordnete Handlung. Philip Marlowe, sein Witz, seine Respektlosigkeit vor allerlei krummen Vögeln und seine gedankliche Schnelligkeit sind, neben dem Handlungsort Los Angeles, die einzige Konstante.

Mir persönlich haben alle vier dieser Bücher ausserordentlich gefallen und ich kann mich darum auch gar nicht entschliessen, welches davon ich zum Beginnen empfehlen würde. Wahrscheinlich «Der grosse Schlaf». Es ist der früheste Roman aus der Reihe und darum auch der renommierteste.


Hier die Buchklappentexte des Diogenes-Verlags zu den vier Büchern:

DER GROSSE SCHLAF: «General Sternwood ist steinalt, steinreich und hat zwei schöne, wilde Töchter. Die aufreizende Carmen wird erpresst, und Privatdetektiv Philip Marlowe soll die Sache aus der Welt schaffen. Der erste Großstadtdetektiv überhaupt findet sich wieder zwischen Banditen und Blondinen. Alle haben ihre Waffen: Kurven, Kugeln – und Marlowe seine Cleverness.»

DER LANGE ABSCHIED: «Terry Lennox ist ein Säufer, und das ist nicht sein einziges Problem: Seine millionenschwere Frau wurde ermordet. Die Polizei hat ihn im Verdacht. Da wendet er sich an seinen einzigen Freund: Privatdetektiv Philip Marlowe. Der Freundschaftsdienst führt Marlowe nach Idle Valley, wo die Reichen von Los Angeles sich mit Affären und Alkohol die Zeit vertreiben. Bald steckt er tief in der Tinte.»

DAS HOHE FENSTER: «Mrs. Murdock, eine reiche Witwe aus Pasadena, hat einen doppelten Auftrag für Philip Marlowe: Ihre Schwiegertochter, eine ehemalige Nachtklub-Sängerin, ist verschwunden, und mit ihr eine alte, wertvolle Münze – die sogenannte ›Brasher-Dublone‹. Beides soll der Privatdetektiv wiederfinden. Wie sich herausstellt, kommen Erpressung, Lügen und Mord in den besten Familien vor.»

LEBWOHL, MEIN LIEBLING: «Moose Malloy, ein Hüne von einem Mann, hat acht Jahre im Knast verbracht. Nun ist er wieder auf freiem Fuß und will seine Liebste wiederfinden, die Variété-Tänzerin Velma. Privatdetektiv Philip Marlowe ist zur falschen Zeit am richtigen Ort und gerät in eine üble Geschichte um Juwelendiebe, einen Wahrsager, korrupte Polizisten und einen Haufen Gangster, die erst schießen und dann reden.»


Als zweites eignet sich zum Beispiel der «lange Abschied» – es ist mit rund 380 Seiten das längste Buch und auch das späteste. Es grenzt darum schon sehr an Perfektion, hier ist der Lesesog noch einmal verstärkt. Übrigens ist es auch von Robert Altman brillant verfilmt worden.

Aber auch «Das hohe Fenster» ist eine gute zweite Wahl. Von allen Marlowe-Romanen ist das «hohe Fenster» mir der liebste. Dies hat folgenden Grund: Bevor der Autor, Raymond Chandler, Romane schrieb, arbeitete er für ein sogenanntes Pulp-Magazin. Pulps, das waren einfach gestrickte Detektivgeschichten, die in Amerika in den 30er Jahren auf grosse Leserschaft stiessen. Für die meisten seiner Romane setzte Chandler solche Pulp-Geschichten zusammen, er nannte diese Praxis «Ausschlachten». Für das «hohe Fenster» jedoch entwickelte er eine komplett neue Handlung. Dies ist spürbar, das Buch ist enorm kohärent und darum vielleicht noch am ehesten mit herkömmlichen Kriminalromanen zu vergleichen.

«Lebwohl, mein Liebling» hingegen ist das Buch der Exzesse. Darum ist es vielleicht eher geübten Chandler-Leserinnen und -Lesern zu empfehlen. Hier geht alles ins Extreme: die Handlung, die Charaktere – alles ist ein einziges Gelage an Atmosphäre und Phantasie, sodass man vermuten würde, dass Alkohol im Spiel gewesen sei, als Chandler dieses Buch schrieb. Doch das war vermutlich gar nicht mal so sehr der Fall. Vielmehr zog Chandler häufig um, während er den Roman schrieb, und diese Unruhe, dieses Ungefestigte mag einem als Leserin oder Leser durchaus auffallen. Ich schreibe nun zwar, dieses Buch sollte man als letztes des vier lesen. Natürlich kann man sich als Chandler-Laie aber auch genau dadurch angespornt fühlen und es als Erstes lesen.

Ist man einmal versunken im Chandler-Universum, wird man sehen – es gibt keinen Ausweg mehr. Und trotz der pessimistischen Titel wird man feststellen – mit jedem Wort, das man liest, wird man optimistischer, glücklicher, beschwingter. Raymond Chandler – der richtige Autor in dieser aussergewöhnlichen Zeit.

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