«Das Geniale an Mathe ist, dass man mathematische Sätze nicht entführen kann!»
An diesem heissen Freitagmittag hat sie ihren roten Schal einmal nicht an, denke ich mir, als ich Franziska Baur in der Mediothek treffe. Schnell einigen wir uns, bei der Hitze nach draussen in den Innenhof zu gehen. Da ist es gemütlicher. Wir setzen uns auf die quietschenden Holzstühle und tauschen uns gut gelaunt aus über dies und das; sie fragt mich, ob sie denn Angst haben müsse vor den Fragen. Nein, nein, beruhige ich sie und erinnere mich an die zwei Jahre Mathe bei ihr. Zwei Jahre voller «hübscher» und «netter» Aufgaben, wie sie jeweils zu sagen pflegte; zwei Jahre voller «Wie lange braucht Ente Anton für diese Strecke?» und voller oben in der Mitte nummerierter Theorieblätter. Eine schöne Zeit – wie ich auch heute noch finde.
Doch genug Nostalgie, das Aufnahmegerät ist eingeschaltet, der Umstieg ins Hochdeutsche nicht ohne Gelächter geglückt, und – bang! – los geht’s…
der springende punkt: Frau Baur, Entschuldigen Sie diese Frage, aber: Haben Sie schon einmal jemanden erwürgt?
Franziska Baur: Nein!
Es gibt ja Ihre bekannte Drohung, dass Sie jemanden würgen – sprich: «würrrrrgen» – wollen.
Das stimmt… Also, Schüler, die kein Wohlverhalten zeigen, die will ich gelegentlich würgen. Ausgestossen habe ich diese Drohung schon, das gebe ich zu.
Aber gemacht noch nicht?
Nein. Nein, nie.
Fahren wir gerade weiter mit einigen Fragen.
Das sind ja wirklich unangenehme Fragen… Sie muss laut lachen. Ob sie ihre Zusage für das Gespräch schon bereut?
AC/DC oder Motörhead?
Ist mir egal. Ich habe keinen Bezug zu beiden.
Zu welcher Musikband haben Sie dann einen Bezug?
Eigentlich stehe ich mehr auf klassische Musik.
SVP oder Front National?
Keins von beidem…
Trump oder Kim Jong Un?
Beide eine Katastrophe.
Von der Frisur her?
Auch nicht besser.
Pythagoras oder Euklid?
Sie muss zögern. Beide super.
Wobei, eigentlich lieber Pythagoras.
Und der berühmte Satz von ihm – Sie wissen schon, dass dieser abgekürzt auch S.V.P. heisst?
Ach, herrje! Sie lacht.
Isaac Newton oder Leonhard Euler?
Die kann man nicht vergleichen, die sind beide so dermassen genial, da würde man dem einen Abbruch tun, wenn man den anderen bevorzugen würde – aber vielleicht wollen Sie gar nicht so ausführliche Antworten…
Das ist mir egal. Damit sind wir jetzt schon bei der Mathematik angelangt. Gibt es eigentlich Schüler, die diesen Satz mögen?
Welchen Satz?
«Damit sind wir jetzt bei der Mathematik angelangt.»
Sie zögert lange sehr lange. Ob ihr wohl Schüler einfallen wollen?
Ja, das gibt’s.
Ok…
Vielleicht sind es nicht wirklich die Mehrheit, aber – knapp unterhalb.
Und wie behandeln Sie diese dann. Also ich meine nicht im Umgang, sondern wo liefern Sie sie ein?
Die Schüler, die den Satz „wir starten mit der Mathematik“ nicht mögen? Ich versuche einfach, dagegen zu arbeiten. Meine Mission hier an der Schule ist, dem entgegenzuarbeiten und den Prozentsatz von 90% Kinder, die diesen Satz nicht mögen, auf 80% zu reduzieren.
Dann fragt sie forsch: Ok?! Und muss lachen.
Und was ist dann Ihr liebster mathematischer Satz?
Sie zögert sehr lange. Es gibt so viele, das kann ich auch nicht sagen…
Das ist blöd! Weil die nächste Frage basiert darauf… Ist es ok, wenn wir mal den Satz von Pythagoras nehmen?
Ja!
Oder hassen Sie diesen jet…
Sie unterbricht, schockiert von dieser als Anschuldigung missverstandenen Frage.
Nein! Nein! Überhaupt nicht! Das ist so ein schöner Satz!
Dann nehmen wir einmal an, dass dieser Satz entführt worden ist, wie weit wären Sie bereit zu gehen, um diesen wieder zu befreien?
Sie antwortet leicht angesäuert. Ich frage mich, ob sie diese dumme Frage zu ernst aufgefasst hat, bin aber dann schnell sicher, dass die Mathematikerin in ihr spricht, schockiert von der Vorstellung einer Welt ohne Satz von Pythagoras.
Das ist das Geniale an Mathematik, man kann mathematische Sätze nicht entführen! Man würde ihn nochmals beweisen – und damit wäre er wieder da!
Kennen Sie einen berühmten Mathematiker, der auch noch eine normale Sprache sprechen konnte?
Alle!
Damit sind Sie nicht auf die Fangfrage eingegangen.
Sie muss lachen.

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Ich habe herausgefunden, dass Sie eine Arbeit geschrieben haben – und ich hätte Ihnen sehr gerne ein paar Fragen dazu gestellt, aber ich bin ehrlich gesagt schon beim Titel («The Weyl calculus and a Cayley–Hamilton theorem for pairs of selfadjoint matrices») gescheitert.
Ja, das war eine Arbeit über sehr grosse Matrizen und ihre Eigenschaften
Apropos Mathematik… ich habe gelesen, dass im Jahr 2002, also vor rund 15 Jahren, die sogenannte Poincaré-Vermutung bewiesen worden ist, aber der Beweis ist noch nicht bestätigt worden. Wie muss man sich denn so einen Beweis vorstellen?
Also, ich meine, der Beweis von Poincaré sei bestätigt und nachgeprüft. Beweise von solchen Resultaten sind dermassen lang und brauchen so grosse Spezialisten, sodass es wahnsinnig viel Zeit braucht, um sie nachzuprüfen. Ein mathematisches Buch lesen Sie nicht wie einen Roman. Dass Sie drei Wochen, oder sogar drei Monate brauchen für eine Seite, das kann durchaus sein.
Die Poincaré-Vermutung:
«Die Poincaré-Vermutung besagt, dass ein geometrisches Objekt, solange es kein Loch hat, zu einer Kugel deformiert (also geschrumpft, gestaucht, aufgeblasen o. ä.) werden kann. Und das gelte nicht nur im Fall einer zweidimensionalen Oberfläche im dreidimensionalen Raum, sondern auch für eine dreidimensionale Oberfläche im vierdimensionalen Raum.»
Quelle: Wikipedia
Auf einer Skala von 1-10: Wie beliebt, denken Sie, ist Ihr Fach?
Unter den Schülern? Sie überlegt. Ich frage mich, ob sie besorgt ist.
Sechs.
Und wie beliebt ist es wirklich?
Fünf.
Wieso sind Sie gerade Mathematikerin geworden?
Das ist gar keine so kurze Geschichte. Ich wollte seit dem Kindergarten Biologin werden, bis zur ersten Vorlesung an der Uni, da hielt ich ein Skript über Wasserflöhe in den Händen mit dem Titel «Die Taxonomie der Invertebratae», und dann hatte ich einen halbjährigen Diskurs mit mir selber. Nachher kam ich über Umwege, zuerst Philosophie, dann Physik, zur Mathe. Das heisst, Mathe ist Liebe auf den zweiten Blick, aber es ist eine sehr grosse Liebe geworden.
Ich glaube, ich spreche da für die meisten Ihrer Schüler, wenn ich sage, dass es die richtige Wahl gewesen ist. Wie lange unterrichten Sie denn schon hier an der HoPro?
Seit 2003.
Ich muss nachdenken, sollte aber nur kurz später feststellen, dass ich das mit dem Nachdenken vielleicht besser elegant der Mathematikerin überlassen hätte.
Kopfrechnen müsste man jetzt können. 16…?
14 Jahre.
Das ist mir jetzt peinlich… Was haben Sie dann vorher gemacht?
Ich habe schon während meinem Studium angefangen mit Unterrichten. Das ist der Vorteil von diesem Fach; es gibt nicht so viele Leute, die Mathe unterrichten möchten. Das heisst, man hat die Chance, schon relativ früh mit Leuten zusammenzuarbeiten, die – plötzlich wird sie baurisch rabiat, Schüler von ihr wissen, was ich meine – Mathe hören müssen, sagen wir’s halt deutlich, und fünfzig Prozent mindestens wollen das ja auch. Nach dem Diplom habe ich an der KME unterrichtet, bis ein Anruf von der Uni kam, ob ich nicht eine Doktorarbeit schreiben möchte. Dann bin ich zurück an die Uni, habe eine Diss. geschrieben, anschliessend bin ich für einige Jahre nach Australien, um weiter an einer Uni zu arbeiten. Ich bin 2003 zurück gekommen, direkt an die HoPro.
Gibt es noch etwas, das wir wissen sollten? Ja, vielleicht: wo haben Sie eigentlich Ihre Kindheit verbracht?
In Kreuzlingen. Das weiss der Jonathan – gemeint ist der Jonathan Avogaro, die unbestrittene Legende der HoPro. Immer und überall gleichzeitig in der HoPro anzutreffen, immer genau wissend, was deine nächste Stunde und bei welchem Lehrer sie ist. – ganz genau. Der hat zu viel Insider-Wissen! Er ist der zweite Schüler, der mich begrüsst hat mit: «Es ging schon meine Mutter zu Ihnen in die Schule». Dann hat man dann das erste Mal das Gefühl, man sei nicht mehr ganz jung…
Der Jonathan wird sich jetzt freuen, dass er vorgekommen ist.
Sie muss lachen. Und ich kann mir vorstellen, Jonathan, dass Du auch lachen wirst, wenn Du das liest.
Gibt es eine blöde und verpönte Fachschaft an der HoPro? Ein schwarzes Schaf?
Unter den Fachschaften? Also, wenn es sie gibt - die Mathe ist es nicht!
Und von den Lehrern aus?
Das wäre viel zu heikel, mich auf solche Fragen einzulassen. Sie muss lachen.
Sonst bräuchten Sie Personenschutz.
Ich? Nein!

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Als Sie in unserem Alter waren, gab es ein Buch, oder ein Film, oder sonst etwas, das Sie sehr inspiriert hat? Das Sie auch empfehlen können für uns?
Wir haben damals wahnsinnig viel gelesen. Den ganzen Hesse und Heine, ganz viele Klassiker, das war uns wichtig. Ich habe Latein gemacht und das Fach geliebt. Ich war zwar nicht sonderlich gut, mein Lehrer hat immer gesagt: «Was du übersetzt, ist absolut korrekt, aber es heisst überhaupt nichts!»
So geht es uns doch allen. Als Lehrerin: Sind Sie eher der passiv-aggressive oder der sarkastische Typ?
Ja, aber wieso stellen Sie die Frage denn mir?
Von der Selbsteinschätzung her. Die unterscheidet sich ja bekanntlich von der Schülereinschätzung.
Also, nochmals. Was habe ich für Optionen?
Passiv-aggressiv oder sarkastisch.
Och, ich find’ weder das eine noch das andere zutreffend.
Da haben Sie sich jetzt aber sehr elegant gerettet!
Sie stösst einer ihrer bekannten glucksend-sympathischen Lachern heraus.
Ihre Lieblingsstrafe?
Ist zu sagen – Sie setzt ihre theatralische Stimme auf –: Ich würrrrrrge Sie! Und muss lachen.
Ein Lieblingswort? Oder Ausdruck?
Weiss ich nicht… Lieblingswort? Im Zusammenhang mit Mathe? Generell? Ich weiss, dass ich relativ viel fluche und das habe ich nicht so ganz unter Kontrolle, so was in der Richtung möchte ich jetzt nicht wiederholen. Ähm… Mir fällt nichts ein!
Das ist ja normalerweise eher der Lieblingssatz von uns Schülern. Interessant, dass auch einmal ein Lehrer das sagt! Was ist denn die typische Mathematiker-Uniform? Oder Mathematikerinnen-Uniform? An der Schule jetzt.
An der Schule? Ich finde, die gibt’s nicht. Mir wird zwar vorgeworfen, dass ich ausser Schwarz und Blau nichts anderes anziehen kann. Ich habe Kolleginnen, die, finde ich, sind sehr bunt… Und auch bei den Lehrern gibt es grosse Unterschiede.
Was ist das Peinlichste, das einem als Lehrperson passieren kann?
Das Peinlichste? Sie muss lange überlegen. Auf jeden Fall nicht, dass man nicht recht hat. Als Lehrerin muss man zugeben können, dass man einen Mist gemacht hat. Das Peinlichste ist, wenn man behauptet, es sei wahr, was man gesagt hat, obwohl es falsch ist. Eine ganze Klasse gegenüber zu überzeugen, dass man recht hat, obwohl man falsch liegt, das ist Schwachsinn! Ich habe ein Mal während zehn Minuten versucht, die falsche Klasse zu unterrichten, als ich neu an eine Schule kam, und dann sassen die da und fanden, «Wir haben jetzt Latein!» Und ich fand, «Nein, Sie haben jetzt Mathe!» Und das ging zehn Minuten gut, bis die Lateinlehrerin gekommen ist und gefragt hat, «Was machen Sie denn da?!» Und dann hab’ ich der auch noch gesagt, ich würde jetzt hier Mathe unterrichten – Sie beginnt zu lachen –, und das was sehr peinlich.
Vervollständigen Sie bitte folgenden Satz:
Mathematik ist…
… das beste Fach.
Ich möchte sie jetzt über wild nach dem Kraut-und-Rüben-Prinzip zusammengewürfelte Themen befragen.
Was ist Ihre Meinung zu…
…Ihren Schülern?
Ja, wie meinen Sie das jetzt?
Was. Ist. Ihre. Meinung. Zu. Ihren. Schülern? Was halten Sie von Ihnen?
Ja, ich mein’, die Beziehungen zu den Schülern sind so vielfältig, wie Beziehungen zu Menschen sind. Das ist was Tolles am Schulegeben, dass man so eine grosse Auswahl hat, und klar schätze ich die, bei denen ich finde, nein, ist der schlau! Und ist der schnell im Denken! Mir gefallen auch die, denen es nicht in den Schoss fällt mit der Mathe und bei denen ich die Bemühung sehe. Ich kann aber auch die verstehen, die finden, das interessiert mich nicht.
Was ist Ihre Meinung…
…zur HoPro?
Ich finde das eine schöne Schule, schauen Sie sich die einmal an. Wir beide blicken andächtig von unserem Platz im Innenhof auf die in der Mittagssonne strahlende HoPro. Sie hat eine lange Geschichte, sie ist schön gelegen, sie sieht schön aus; ich fühle mich hier wohl.
…zu Josef Stalin?
Sie geht beherzt auf diese eigentlich sinnlose Frage ein.
Nicht eine gute. Ich lese gerade ein Buch über Dmitri Schostakowitsch, «Der Lärm der Zeit» von Julian Barnes, und da kommt diese Stalin-Zeit doch einmal mehr wirklich sehr schlecht weg.
…zu Katzenvideos?
Katzenvideos? Also ich finde vor allem die wahnsinnig lustig – und da lach’ ich mich halbtot – wenn man hinter eine Katze eine Gurke legt. Und was das mit einer Katze macht, das kann ich mir eine halbe Stunde lang anschauen und mich halb totlachen.
Wie sollen wir Schüler uns auf eine Ihrer Prüfungen vorbereiten?
Nein, ist das jetzt eine blöde Frage!
Ich weiss. Darum habe ich die Frage ja gestellt.
Ich mein’, das sage ich ja ständig im Unterricht! Gut, also: Sie passen selbstverständlich auf, Sie machen während dem Unterricht mit, Sie lösen die Hausaufgaben, Sie bereiten sich nicht erst einen Tag vorher vor, und Sie interessieren sich für das Fach.
Und wo bewahren Sie die Prüfungen auf?
Wo? In meiner Mappe, in einem Mäppchen, nicht im Tresor! Mir ist noch nie eine geklaut worden.
So, das war’s! Frau Baur, vielen Dank für das Gespräch!
Ich bedanke mich auch!